Die Anarchos von der Leine

Foto: Picture-Alliance/dpa/Christine Pfund

Es hat gescheppert damals. „Wie der Punk nach Hannover kam“ heißt das neue Buch von dreien, die dabei waren. Die einstigen Schädelspalter-Macher Klaus Abelmann, Detlef Max und Hollow Skai halten Rückschau auf eine Zeit, als die Babyboomer sich frei strampelten. Exzentrisch und laut. Eine einzigartige Subkultur erblühte an der Leine. Und wirkt bis heute nach.

 

 Punk war eine große Jugendbewegung, es gab praktisch in allen Städten Punks. Warum war Hannover – neben Berlin, Düsseldorf und Hamburg – ein besonders guter Nährboden für diese neue Subkultur?

Hollow Skai: Hier war einfach nichts los, hier musste man selbst etwas machen, wenn man Spaß haben wollte. Die Stadt hat einfach danach gehungert. Hier gab es eine Menge von Leuten, die plötzlich Bands gründeten.

Wo haben die ersten Punks sich getroffen?

Skai: Das erste kleine No-Fun-Festival fand 1978 im Jugendzentrum Badenstedt – dem Colosseum – statt.

Klaus Abelmann: Badenstedt ist früher eine finstere Gegend gewesen. Wer nur kürzere Haare hatte, kriegte schon auf die Fresse. Die Bundeswehrtypen haben einen immer identifiziert. Der Bahnhof galt als verbotene Zone, jedenfalls am Wochenende. Und dann gab es auch noch Rocker, und die mochten uns ebenso wenig. Also Feinde hatte man genug.

Punks haben auch gerne provoziert, und die Reaktionen mündeten oftmals in gewalttätigen Auseinandersetzungen.

Skai: Wenn wir an einer Straßenecke rumlungerten, eine Bierdose in der Hand hatten und pöbelten, wechselten schon viele die Straßenseite, auch wenn wir nicht gewalttätig waren. Das Aussehen und ein paar Sprüche reichten da schon. Andererseits musste man auch aufpassen, dass man nicht selbst ein paar auf die Fresse kriegte.

Detlef Max: In der Vorstadt reichte es auf jeden Fall. Mit einem Konfirmationssakko aus Samt und einem Nina-Hagen-Badge wurde man 1978 in Sarstedt schon als Punk bezeichnet. Erstaunlich.

Abelmann: Für das Konzert von Rotzkotz in der Grundschule Südstadt hatte ich mir bei Woolworth ein Hundehalsband geklaut und fühlte mich richtig Punkrock. Aber die Jungs sahen auch gut aus: Ernst August Wehmer trug ein Leopardenhöschen, und alle hatten kurze Haare. Das wirkte ein bisschen gefährlich. Später wurde der Flohmarkt an Samstagvormittagen dann unser unausgesprochener Treffpunkt.

Skai: Das war ein wichtiger Treffpunkt, weil man da überhaupt Punkplatten kaufen konnte. Ernst August, der Sänger von Rotzkotz, verhökerte auf dem Flohmarkt Singles, die er aus London gekriegt hatte. Auch der Pavillon war sehr früh dabei. Dort fand 1979 das erste große Punkfestival in Hannover statt – vor 1000 Leuten. Die Bands waren Hans-A-Plast, Rotzkotz, Kaltwetterfront und Montego Bay, ein Reggae-Act. Dann kam noch die Kornstraße dazu, die sich immer brüstete, schon sehr früh das Zentrum der Punks gewesen zu sein.

Entspricht das der Wahrheit?

Skai: Pustekuchen! Am Anfang hielten sie die Punks für Faschisten, weil Sid Vicious von den Sex Pistols mal ein T-Shirt mit einem Hakenkreuz trug. Es hat dann auch gedauert, bis dort die ersten Punkkonzerte stattfinden durften.

Abelmann: Die damaligen Betreiber haben quasi die Schlüssel ausgehändigt, weil sie einfach sagten: „Okay, ihr seid jetzt mehr!“ Es gab eine richtige Übernahme und Übergabe. Als Rudi Dutsche gestorben war, hatte ich mir noch den Zorn der Alt-Linken zugezogen, weil ich auf dem Herrenklo ein Graffiti mit Filzstift gemalt hatte: „Rudi, wir baden weiter!“ Er ist ja in seiner Badewanne gestorben, und ich fand den Spruch im Nachhinein auch doof.

Die Vorreiter Rotzkotz haben dann andere hannoversche Punkbands nach sich gezogen?

Skai: Ja. 1979 und 1980 waren die Jahre, wo es hier richtig explodierte. Jeder, der meinte, eine Gitarre halten zu können, ging auf einmal auf die Bühne.

Abelmann: Doc Schwanz war auch sehr früh dabei, ein sehr stylischer Mensch. Und die Automats natürlich als Velvet-Underground-Wiedergänger, die späteren 39 Clocks. Ich stritt mich immer mit Christian Henjes darüber, was sie im ersten Konzert eigentlich gespielt hatten. Ich meinte, „Needles and Pins“, er wusste es aber auch nicht mehr so genau. Es war jedenfalls famos. Zum ersten Mal gesehen habe ich ihn und Jürgen Gleue bei einem Auftritt von Lou Reed in der Eilenriedehalle, bestuhlt. Diese zwei Typen ganz in schwarz mit Sonnenbrille – Hammer! Da dachte ich, das müssen Punks sein. Ich war immer froh, wenn ich mal einem begegnete.

Aber schon bald gab es zahlreiche eigenwillige „Gewächse“ in der hannoverschen Punk-Szene: Commander Collaps, Rosa, Phosphor, Schwanz kanns, Kondensator’s, Hans-A-Plast, Bärchen und die Milchbubis, Rotzkotz, Cretins, The Fucks, Kaltwetterfront, Der Moderne Man, Blut und Eisen, Boskops.

Abelmann: 1978 war noch seltsam tot, aber 1979 erblühte das Ganze und 1980 war es richtig am Kochen. Man darf nicht vergessen, dass es in Hannover auch kommerzielle Musikläden wie die Rotation gab. Da ist diese komische Band The Tubes aufgetreten, deren Hit hieß „White Punks on Dope“. Das galt schon als Punkrock, weil man ja nichts anderes hatte.

Hässlich geschminkte Jugendliche trugen in Müll-Klamotten, zum Teil mit Nazi-Insignien und Hundeketten, Protest gegen Arbeitslosigkeit und Langeweile in der Industriegesellschaft zur Schau – das wirkte auf viele ehrfurchtsgebietend. Wie hart waren die Punks wirklich?

Skai: In den Bands, mit denen ich zu tun hatte, spielten in der Regel harmlose Oberschüler, Studenten oder Kinder von Wohlstandsbürgern. Selbst eine Politpunk-Band wie Klischee entstammte dem Mittelstand. Bei ihr wirkte David Spoo mit, Sohn des damaligen Korrespondenten der Frankfurter Rundschau. Oder bei den Kondensator’s war es Dietrich Kittners Sohn Konrad. Selbst die so genannten Gossenpunks kamen aus der Mittelschicht. Die proletarische Jugend, die zum Beispiel im Stadtteil Mühlenberg wohnte, machte eher Jagd auf Punks.

Abelmann: Es hat auch kein Punk Kampfsport betrieben oder ist in ein Fitnessstudio gegangen. Punk und Sport war schon mal scheiße. Man musste zwar schnell auf den Füßen sein, aber zum Look gehörte es auch, schmächtig zu sein. Das waren wirklich alles Hänflinge.

Was hat Sie persönlich an der Punkkultur fasziniert?

Skai: Ich hatte plötzlich das Gefühl, dass neue Freiräume da waren. Ich kam aus der linken Bewegung, Sponti-Ecke und SDS an der Hochschule. Das frustrierte mich aber immer mehr, weil die K-Parteien alles erstickten mit ihrem Aktionismus. Bärchen von der Band Bärchen und die Milchbubis war in der Anti-AKW-Bewegung sehr aktiv und sah aus demselben Grund für sich keine Perspektive mehr. Punk war dann ein Ventil, plötzlich war etwas anderes möglich und du konntest dich verwirklichen und zum Beispiel eine Performance machen oder eine Band gründen, eine Platte machen, ein Fanzine herausgeben.

1979 gründeten Sie in Hannover das Punklabel No Fun Records. Ihre Bands hießen Hans-A-Plast, Bärchen und die Milchbubis, Daily Terror, der Moderne Man und The 39 Clocks. Welchen Ansatz verfolgten Sie mit dem Label?

Skai: Wir verstanden uns als lokales Label, das neuen Gruppen aus Hannover die Möglichkeit geben wollte, eine Platte zu veröffentlichen oder darüber Auftritte zu bekommen. Das verbesserte deren Situation. Andererseits entsprach unser Repertoire auch den Punk-Fächern in den Plattenläden, wo man alles reinstopfte, was irgendwie neu war. Auf manche No-Fun-Platte hätte ich im Nachhinein gerne verzichtet, aber was soll’s.

Abelmann: Es war damals schwierig, Platten überhaupt pressen zu lassen. Wir sind in die Heide gefahren zum einzig unabhängigen Presswerk weit und breit. Und dass, obwohl in Hannover die Schallplatte erfunden wurde.

Sind Sie dann mit einer Neuerscheinung von Rotzkotz zur Neuen Presse gegangen, damit sie der heutige Zeit-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo rezensiert?

Skai: Giovanni di Lorenzo kam erst später dazu.

Abelmann: Man muss sich vorstellen, dass die erste Szeneseite für junge Leute in der HAZ 1984 veröffentlicht wurde. Eine halbe Seite. Mehr gab es nicht. Wenn man in die Presse wollte, dann musste man es so machen wie die Band Blitzkrieg auf dem Altstadtfest, wo sie eine sehr fragwürde Ansage vom Stapel ließ. Dann hatte man aber die Schlagzeile. Und wenn mal ein Schaufenster entglast wurde, dann war ordentlich was los. Dann kam die Punkerkartei. Also, Presse hatte man schon.

1982 wurde die Existenz einer geheimen Punker-Kartei der hannoverschen Polizei öffentlich. Darin wurden Jugendliche mit auffälligem Aussehen registriert, auch wenn sie in keine Straftaten verwickelt waren.

Abelmann: Die Vorgängerin der Grünen, die GABL, hatte sich des Themas politisch angenommen und es in den Stadtrat gebracht. Wir hatten sie als Punks verkleidet. Heute wirkt das ein bisschen peinlich, aber so konnte man das Thema bundesweit setzen. Bis heute lässt sich nachlesen, dass hier über 100 Menschen nur wegen ihres Aussehens in einer Polizeidatei systematisch katalogisiert wurden. Die musste dann aber datenschutzrechtlich aufgegeben werden. Das war schon ein ziemlicher Aufreger.

Waren Polizei, Politik und Medien damals genauso panisch, wenn es um Rechtsradikalismus ging?

Skai: Rechtsradikale gab es in Deutschland noch nie. (lacht)

Abelmann: Es gab natürlich Skins. Die tauchten immer im Zusammenhang mit Fußballspielen auf, insbesondere von auswärts. Die Skins machten sich schnell gemein mit rechtsradikalen Fußballfans wie der Savage Army aus Hamburg. Die waren mitunter in der Überzahl und versuchten auch mal, das UJZ Kornstraße zu überfallen. Das ging meistens schief, weil in der Korn im Prinzip der Schwarze Block zuhause war. Der wurde immer mehr zu Punk und wusste sich zu wehren. Da war man sicher.

Am 16. Dezember 1982 rief die US-Punk-Ikone Jello Biafra während des Auftritts der Dead Kennedys im Kursaal in Bad Honnef ausdrücklich zu „Chaostagen“ auf, um gegen diese Kartei zu demonstrieren. Hat das die Punkszene politisiert?

Abelmann: Auf jeden Fall. Das war sicherlich auch das Werk von Karl Nagel. Er organisierte den ersten Chaostag unter dem Motto „Punks and Skins united“, was später in die Hose gegangen ist. Seine Vision: die vereinigten Kids gegen Staat, Polizei und Repressalien.

Die Polizei behauptete damals angeblich, die Punks wollten laut eigenen Angaben Hannover in Schutt und Asche legen. Hat die Polizei rückblickend überreagiert?

Abelmann: Untertrieben gesagt, wenn man unser Treiben betrachtet. Wir waren zum Teil Maulhelden mit Eddings und haben sonst was an die Wände geschrieben. Das sah ungeheuer gefährlich aus. Es war aber blankes Maulheldentum. Im November 1980 gab es ein Bundeswehrgelöbnis im Niedersachsenstadion und massive Proteste dagegen. Da waren in der Tat Punks vor Ort zusammen mit Autonomen.

Haben die „Chaos-Tage“ die politische Kultur in Deutschland verändert?

Abelmann: Offensichtlich. In den 1990ern wurden in der Nordstadt die merkwürdigsten Straßenschlachten, die ich jemals gesehen habe, geführt. So lange gibt es die Chaostage. Die Androhung, es gäbe wieder einen neuen Chaostag, versetzt zumindest noch den Einzelhandel in helle Aufregung.

Skai: Wie Karl Nagel in unserem Buch erzählt, sollte es mal eine Woche lang die Bürger schockieren und beim Einkaufen stören. Dass das Ganze dann eskaliert, war nie geplant. Wie Punk ja sowieso mit allem spielerisch umgegangen ist. Rotzkotz zum Beispiel hatten ein Poster, das den Fahndungsplakaten der Roten Armee Fraktion nachempfunden war. Die Musiker wirkten darauf wie gesuchte Gewalttäter und Terroristen. Malcolm McLaren (Manager der Sex Pistols, Anm.) hatte zu der Zeit ein T-Shirt mit Hakenkreuz entworfen, weil er sich davon ein gutes Geschäft versprach. Der kam aber aus einer ganz anderen Ecke. Er war Situationist und hatte mit Faschismus überhaupt nichts am Hut. Es war nur ein Spiel mit Zeichen.

Abelmann: Es war ein bisschen Vulgäranarchismus. Das Wort Chaos wurde immer mit einem eingekreisten A geschrieben, wie überhaupt jedes A. Aber keine Sau unter den Punks hatte Bakunin, Kropotkin oder Marx gelesen.

Der Wahlspruch der Punks lautete „live fast, die young“. In Ihrem Buch „Wie der Punk nach Hannover kam“ listen Sie die Verstorbenen auf. Welche lokale Punk-Persönlichkeit ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?

Abelmann: Alice D. Er konnte keiner Fliege etwas zu Leide tun. Man muss wirklich sagen, die Drogen haben eine ziemliche Schneise in die Szene geschlagen. Insbesondere, als Heroin aufkam. Zuerst war es natürlich Alkohol, Dosenbier. Hasch rauchte der Punk nicht, später mag sich das geändert haben. Und dann kamen die Medikamente. Viele in der Szene arbeiteten bei Arzneimittelvertrieben. Sie hatten tütenweise Zeug dabei und kannten sich damit besser aus als jeder Apotheker. Was da alles veranstaltet wurde, war polytoxoman. Da gab es leider schon die ersten Toten. Und natürlich haben die harten Drogen wie Heroin, Kokain, Speed und Captagon viele Menschen aus der Bahn geschossen, insbesondere diejenigen, die alles durcheinander nahmen.

Sie haben das Buch sicher nicht nur aus nostalgischen Gründen gemacht. Wie würden Sie einem heute 18-jährigen Leser erklären, was Punk war?

Skai: Andersrum: Meine Tochter sagte mir neulich, sie würde auch gerne mal sowas erleben. Man muss nicht die Macht, aber die Möglichkeit haben, etwas zu machen. Dieses Gefühl kennen alle Autoren dieses Buches. Punk hat ihr Leben verändert – weg von einem Nine-to-five-Job hin zu einem befreiten, selbstbewussten Lebensgefühl.

Max: Wir haben das Buch nicht gemacht, um unsere eigene Jugend noch einmal Revue passieren zu lassen. Wie es sich für Punk gehört, ist es aus einer recht spontanen Idee heraus entstanden, und wir haben festgestellt, es macht Spaß, nach 35 Jahren wieder in dieser Konstellation als Schädelspalter-Dreamteam zusammenzuarbeiten. Es ist aber weit entfernt von Nostalgie, sondern ein Stück hannoverscher Stadt- und Kulturgeschichte, die gefälligst endlich einmal dokumentiert gehörte. Gern geschehen.

Interview: Olaf Neumann

Und heute?

Hollow Skai ist heute freier Autor zahlreicher Bücher über Punk, die Neue Deutsche Welle, Die Toten Hosen und Die Ärzte. Detlef Max ist Geschäftsführer von Deutschlands ältester Tageszeitung, der Hildesheimer Allgemeinen Zeitung. Klaus Abelmann ist stellvertretender Leiter des Kommunikationsteams der Region Hannover. MAC

 

Die konzertierte Lesung

„Wie der Punk nach Hannover kam“

Lesung mit Hollow Skai, Klaus Abelmann u.a.

Livemusik: Der Moderne Man, Bärchen und die Milchbubis,  Annette Benjamin (Hans-A-Plast)

27.5.2023, Pavillon, 18 Uhr. Wir verlosen 4×2 Karten. Einfach mail an gewinne@asphalt-magazin.de senden. Einsendeschluss : 31. März 2023. Die GewinnerInnen werden dann auf die Gästeliste gesetzt. Viel Glück. 

 

Wohnen wie die anderen

Fotos: Picture-Alliance/empics/Brian Lawless

Housing First ist in vielen Ländern längst Konzept der Wahl bei der Bekämpfung von Obdachlosigkeit. Jetzt will auch die neue rot-grüne Landesregierung explizit solche Projekte fördern. Doch bisher ist Housing First in Land und Landeshauptstadt nicht viel mehr als Ankündigung. Kai Hauprich, Vorstand des Bundesverbands der Housing First-Initiativen sagt, was Oberbürgermeister und Politik jetzt wissen müssen.        

 

 „Housing First“ gilt weltweit als Lösung, Obdachlosigkeit längerfristig abzuschaffen. Gemeint ist damit aber nicht, den Menschen auf der Straße einfach eine Wohnung zu besorgen, oder?  

Das größte Missverständnis ist tatsächlich, dass man glaubt, es muss nur eine Wohnung her und der Rest wird sich schon fügen. Das ist natürlich Unsinn. Wir haben es bei Obdachlosen oft mit Menschen zu tun, die vor allem ausgegrenzt sind, häufig seelisch schwer krank oder suchtkrank. Sie leben draußen, weil sie aus guten Gründen unsere bestehenden Angebote nicht in Anspruch nehmen können oder wollen. Man schätzt, dass es in Deutschland rund 280.000 wohnungslose Menschen gibt, davon rund 35.000 Obdachlose. Ihnen allen kurzfristig einfach eine Wohnung zu besorgen ist erstens unrealistisch und zweitens auch überhaupt nicht zielführend. Die Menschen wären auch schnell wieder draußen, wenn man sie nicht aktiv unterstützt. Deswegen muss man Housing-First-Projekte etablieren, die viel weiter greifen und alle Hilfen anbieten, die diese Menschen sich wünschen. Und zwar nicht von oben herab, sondern selbstbestimmt und auf Augenhöhe. Es geht bei Housing First um eine Verbesserung der Lebenssituation – ohne Druck und Zwang.

 

Selbstbestimmung ist da ein wichtiges Schlagwort. Ich verstehe das so, dass wohnungslose Menschen weiterhin ein hohes Maß an Wahlfreiheit und Entscheidungsmöglichkeit haben. Ein Beispiel: Man wird dazu ermutigt, schädigenden Konsum von Alkohol und Drogen zu minimieren. Man ist aber nicht – wie das im gängigen Stufensystem üblich ist – dazu verpflichtet. Ein komplett neuer sozialarbeiterischer Ansatz, oder?

So ist es. Im Grunde ist es so, dass sich obdachlose Menschen von anderen insbesondere durch ein hohes Maß an Armut und Einsamkeit unterscheiden. Es gibt viele nicht obdachlose Menschen, die ebenfalls zu viel trinken oder psychisch krank sind oder die aufgrund von Krankheit und Alter nicht mehr alleine leben können. Sobald aber jemand eine rührige Tochter oder einen intakten Freundeskreis hat, kümmert sich eben jemand darum. Für einen Menschen, der obdachlos ist, hat es dieses soziale Netz nicht gegeben. Sie wollen aber leben wie jeder andere auch. Das heißt in erster Linie selbstbestimmt. Sie möchten über ihr Leben selbst entscheiden können. Deshalb gehen viele von ihnen auch nicht in die Notunterkünfte: Sie wollen nicht mit der stigmatisierten Gruppe der Obdachlosen identifiziert werden. Sie möchten auch nicht auf engstem Raum mit anderen Suchtkranken schlafen, am Ende noch beklaut werden. Sie sind nur aus einer Not heraus auf der Straße und wären lieber ein integrierter Teil der Gesellschaft.

 

Also geht es gar nicht darum, Tiny Houses, Wohnwagen oder andere alternative Wohnformen zu rekrutieren? Aber ist das nicht besser als nichts?

Wenn es draußen kalt ist, dann kann sowas sicher eine pragmatische Hilfe sein. Nachhaltige Lösungen sehen anders aus: Hinter Housing First steht ein hochkomplexes Betreuungsprogramm, das auch einen menschenwürdigen Wohnraum vorsieht, also einen Mindeststandard. In einem Wohnwagen hat man keinen Wasseranschluss, keinen Stromanschluss – das ist eine sehr spezielle Lebensform. Die meisten Obdachlosen wollen wohnen wie jeder andere auch. Wenn einer unserer Klienten in eine Wohnung einzieht, rate ich mittlerweile, sich nicht als Ex-Obdachloser vorzustellen, sondern eben beispielsweise als der Friseur oder der Lehrer, der er eben auch mal war oder eben auch noch ist.

Der klassische Slogan, den man immer wieder hört, lautet: In Deutschland muss doch niemand auf der Straße schlafen. Damit meint man doch, dass die Menschen selbst schuld sind, dass sie auf der Straße leben. Dass es doch genug Angebote gäbe…

Tatsache ist, dass viele Menschen, die wir kennen, von den Angeboten der bestehenden Wohnungslosenhilfe nicht abgeholt werden. Die Notunterkünfte und Angebote der Wohnungslosenhilfe werden teilweise als derart bedrohlich und schädigend empfunden, dass sie die Straße vorziehen. Das hat mit freiwillig aber gar nichts zu tun. Unser Ansatz ist daher zu fragen, was die Menschen wollen, und dann herauszufinden, wie wir genau dabei unterstützen können. Die meisten möchten zuerst eine Normalwohnung – Housing First. Es gibt Menschen, die brauchen tatsächlich nur einen Mietvertrag, haben aber keine schwerwiegenden Probleme. Und dann gibt es Leute, die haben ein ganz spezifisches Problem, zum Beispiel Gewalterfahrung. Es gibt Leute, die haben eine Suchterkrankung, gehen arbeiten und könnten ganz normal wohnen. Und es gibt Personen, sehr viele sogar, die sind schlicht überschuldet. Housing First geht auf die individuellen Wünsche und Ziele ein. Die setzen aber nicht wir, sondern die Menschen selbst.

 

Sie sprechen von verschiedenen Gruppen, die ganz individuelle Hilfe brauchen, unter anderem verarmte Familien, obdachlose Frauen, Junkies, auch Menschen mit Migrationshintergrund, die hier eigentlich oft kein Anrecht auf Hilfen haben. Das bedeutet aber, man braucht ein riesiges Netz an Spezialisten, die sich um all diese Bedarfe kümmert.

Genau. Das haben wir auch. Bei einer personenzentrierten Hilfe müssen sich nicht die Menschen an unser Angebot anpassen, wie es bisher war, sondern wir, als SozialarbeiterInnen, fragen, wie wir am besten unterstützen können. Wir haben bei Housing First dazu ein gemeinsames Team bestehend aus SozialarbeiterInnen, PsychologInnen, gegebenenfalls auch ÄrztInnen. Wichtig ist, dass wir im Team arbeiten, sodass wir das gleiche Mindset haben – Selbstbestimmung. Die Menschen entscheiden selbst. Wir sind vor allem Dienstleister.

 

Und wie geht man da vor? Es gibt doch sicher Berichte aus den Ländern, in denen man Housing First bereits erfolgreich umgesetzt hat, beispielsweise Finnland.

Ja, interessant ist die Reihenfolge, mit der man in Finnland den unterschiedlichen Zielgruppen Angebote gemacht hat: Menschen mit schweren Problemen kamen nämlich zuerst dran. Bei uns neigt man dazu, erst denjenigen zu helfen, die gut vermittelbar sind. Es erscheint einfacher und auch nach außen hin Erfolg versprechender, die junge Mutter mit dem kleinen Kind und der Räumungsklage, in neuen Wohnraum zu bringen als einen älteren Mann mit Alkoholproblem, der seit 20 Jahren auf der Straße lebt. Aber um es deutlich zu sagen: Bei ihm läuft grade die Uhr. Dieser Mann erfriert vielleicht bald. Wir haben uns gesellschaftlich so daran gewöhnt, dass wir den Menschen beim Sterben zuschauen, dass wir das für normal halten. Das darf nicht sein. Ich finde, wir müssen schnellstmöglich jene versorgen, die am dringendsten unsere Hilfe brauchen.

 

Das klingt nach einer großen Aufgabe. Welche Rolle spielt die Nachsorge und Prävention in dem Konzept? Wenn beispielsweise jemand „rückfällig“ wird oder in alte Verhaltensmuster verfällt.

In Finnland setzt man seit fast 30 Jahren Housing First um. So konnte man nicht nur Obdachlosigkeit und Wohnungslosigkeit systematisch abbauen, sondern auch gute Präventionsarbeit leisten. Es gibt Gefährdetenlisten, die sofort aktiv werden, sobald bestimmte Parameter zutreffen. Gehört man zu einer Risikogruppe für Wohnungsnot, meldet sich jemand noch vor Wohnungsverlust und bietet aktiv Hilfe an.

 

Warum tun wir uns hier in Deutschland so schwer damit, Housing First umzusetzen?

Es gibt unterschiedlichste Gründe, warum Menschen gegenüber Housing First skeptisch sind. Einer ist, dass man das Hilfesystem umdenken muss. Um in unserem jetzigen Hilfesystem, Angebote abrechnen zu können, muss man ein Problem feststellen – notfalls erfindet man eines. So werden die Menschen zu „Fällen“, denen die angediehene Hilfe jedoch oft nicht gerecht werden kann, weil ihre Probleme oft ganz andere sind. Es entsteht eben auch eine Gruppe Menschen, die konsequent auf der Straße lebt, weil sie sich vom Hilfesystem entweder im Stich gelassen oder bevormundet fühlt. Wohnungslosigkeit ist in erster Linie ein strukturelles Armutsphänomen.

 

Ist es nicht auch notwendig, dass ein Umdenken in der Gesellschaft stattfindet?

Ich erlebe täglich eine unglaubliche Bereitschaft, Menschen in Not zu helfen. Gleichzeitig will keiner einem Obdachlosen mit seelischer Erkrankung eine Wohnung vermieten. Das traut man sich nicht, vielleicht weil er Selbstgespräche führt. Würde jedoch die eigene Mutter anfangen in ihrer Demenz mit sich selbst zu sprechen, würde man sie auch nicht allein lassen, oder? Das Ganze hat eine gewisse Doppelmoral. Das hat man auch gesehen, als viele Menschen Wohnraum für ukrainische Kriegsflüchtlinge bereitgestellt haben. Das fand ich richtig und großartig. Den Wohnraum einem Obdachlosen zu vermieten ist dagegen für viele keine Option. Housing-First-Projekte zeigen, dass auch obdachlose Menschen mit Suchtproblematik, seelischer Erkrankung und anderen schweren Problemen normal wohnen können, wenn man die richtige Hilfe anbietet.

 

Im Sommer 2022 wurde im Rahmen eines Fachtags in Bremen der Bundesverband Housing First gegründet, in dessen Vorstand Sie sind. Wie kam es dazu und welches Ziel hat dieser Verband?

In der Zeit der Coronapandemie wurden diejenigen, die gerade angefangen hatten, das Housing-First-Konzept umzusetzen, erstmal ganz schön ausgebremst. Gemeinsame Zoomkonferenzen waren der Anfang eines sehr fruchtbaren Austauschs unter den deutschen Projekten, der dann im in Bremen fortgesetzt wurde. Am Ende haben sich rund 20 Housing-First-Projekte zu einem neuen Dachverband zusammengeschlossen, um ihre Expertise zu bündeln und gleichzeitig die eigenen Interessen besser nach außen vertreten zu können – auch Housing-First-SkeptikerInnen gegenüber. Übrigens gibt es auch ein europäisches Netzwerk, in dem wir nun sichtbar sind und uns viel von anderen abschauen können, die da schon ein paar Jahre Vorsprung haben.

 

Aus welchen Gründen wird denn Kritik geübt? Aus welcher Ecke kommt die?

Es gibt verschiedenste Gründe, warum Housing First abgelehnt wird. Ein Grund ist Machtverlust. Wenn ich wie im klassischen Stufensystem, über ein Zimmer verfüge und entscheide, ob die Tür auf und zu geht, habe ich Kontrolle. Das geht bei Housing First eben nicht. Housing First bedeutet in allererster Linie Machtverzicht. Aber da kommt nun eine neue Generation von SozialarbeiterInnen, die sagt: „Die Menschen sollen selbst bestimmen können.“ Für die heute Studierenden ist Recovery-Orientierung nichts Fremdes mehr. Es geht nicht nur um „satt und sauber“, sondern auch darum, dass die Menschen ein sinnstiftendes Leben für sich entwickeln können. Das ist das Schöne an der Arbeit.

 

Wie sieht das finanziell aus? Kostet die Umsetzung des Housing-First-Konzepts nicht auch Geld? Dass viele Kommunen nicht haben … Sicher auch ein Grund, dagegen zu sein.

Das ist ein schlechtes Argument, denn Housing First ist kosteneffizienter als das bestehende System. Die Sorge einiger etablierter Träger ist vielmehr, dass ihre eigene Arbeit durch den Erfolg von Housing First in einem schlechten Licht stehen könnte. Ein Beispiel: Die Wohnstabilität in einem klassischen Betreuten Wohnen sieht so aus, dass man mit einem Klienten vielleicht fünf Jahre durch alle Hilfen geht, der dann – im Idealfall – eine Wohnung bekommt. Die Betreuung ist abgeschlossen. Zwei Jahre später sind von diesen Personen nur noch 40 Prozent in dieser Wohnung, weil ihre Probleme wieder durch die Hintertür gekommen sind. Bei Housing First liegt die Wohnstabilität bei 90 Prozent. Man hat also für die Hälfte des Geldes eine doppelt so gute

Erfolgsquote. Das können viele der bisherigen Träger der Wohnungslosenhilfe nicht einordnen oder fühlen sich dadurch in Frage gestellt. Hinzu kommt, dass man hierzulande häufig bevorzugt denen hilft, die sich an die Angebote anpassen. Wer zu häufig in Konflikte gerät, bleibt dauerhaft mit der Zuschreibung „Systemsprenger“ draußen. Eine Stärke von Housing First ist, dass man sich konsequent fragt, was verbessert werden muss. Das ist zwar anstrengend – vor allem für uns als Wohnungslosenhilfe. Darin liegt aber der Erfolg begründet.

Danke für diesen Einblick und das Gespräch.

 Interview: Christina Bacher