Bürgergeld: eine Kleine Reform

Foto: Picture-Alliance/dpa/Michael Kappeler

Seit Januar gilt’s: Hartz IV ist passe. Das Bürgergeld ist da. Und mit seiner Einführung sage und schreibe 53 Euro mehr pro Kopf und Monat. Dazu ein paar Änderungen beim Zuverdienst, ein paar Änderungen bei Sanktionen. Ein großer politischer Wurf ist es nicht geworden. Auch wenn die Ampel in Berlin anderes erzählt wissen möchte.

Sozialminister Hubertus Heil (SPD) hält es für einen Systemwechsel, das neue Bürgergeld. Es gehe um „Respekt“ und „Anerkennung“. „Auf Augenhöhe“ müssten Jobcenter-Mitarbeiter künftig den Arbeitslosen begegnen, wenn es um Leistungsbezug und Mitwirkungsvereinbarungen gehe, betonte er jüngst mit versuchter Verve im Gespräch mit dem Deutschlandfunk. Und gab damit zu, dass eben jener Umgang auf Augenhöhe im nun scheidenden Hartz-IV-System offenbar tatsächlich nie vorgesehen war. Welch späte Ehrenrettung für all jene, die sich in den Jobcentern der Republik immer mal gegängelt fühlten und das lange Zeit auch kritisierten, denen aber all die Jahre nur in interessierten Kreisen ernsthaft zugehört worden war. Gerade innerhalb von Heils SPD wurden die Abwehrschilde gegen grundsätzliche Kritik am Hartz-IV-System lange Zeit fest und hoch gehalten. Ob der von Heil nun beschworene Paradigmenwechsel in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik tatsächlich geeignet sein wird den Langzeitarbeitslose über „neue Wege aus der Bedürftigkeit in Arbeit zu bringen, durch Qualifizierung und Weiterbildung“, wie Heil sagt, wird sich zeigen.

Regelsatz

Der Regelsatz, also das, was ein alleinstehender Mensch neben der Miete zum Leben erhält, steigt ab sofort um 53 Euro auf 502 Euro pro Monat. 53 Euro sind nicht nichts. Aber: 53 Euro sind nicht viel angesichts galoppierender Preise. Im Gegenteil. Die Inflation liegt aktuell bei zehn Prozent. Die Bundesregierung rühmt sich aktuell mit einer Tat, die im Grunde lediglich eine Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts in Sachen Transferleistungen umsetzt. In einem Beschluss aus dem Jahr 2014 heißt es, dass der Gesetzgeber auf eine hohe Inflation „zeitnah“ reagieren müsse. Die jetzigen 53 Euro mehr sind kein Mehr. Das hat einen Grund: Die Berechnungsgrundlagen, die sogenannte Einkommens- und Verbrauchsstichprobe, die die in der Vergangenheit zu Recht von allen Wohlfahrtsverbänden regelmäßig als zu niedrig kritisierten Hartz-IV-Regelsätze festlegten, wurden mit der Reform unangetastet gelassen. Für eine großen politischen Wurf aber wäre eine Reform an genau dieser Stelle aber unbedingt nötig gewesen.

Wohnung

Menschen dürfen, wenn sie künftig arbeitslos werden, in ihrer Wohnung bleiben, zunächst auch in einer zu teuren Mietwohnung und sogar in einer Eigentumswohnung. Die Kosten für Unterkunft werden in tatsächlicher Höhe, die Heizkosten in angemessener Höhe anerkannt und übernommen. Zudem soll es eine Härtefallregelung, wenn Wohneigentum weiterhin selbst genutzt wird. Natürlich wirft es Gerechtigkeitsfragen auf, wenn der arbeitslos gewordene Akademiker seine schicke Eigentumswohnung in der hannoverschen Oststadt nicht verkaufen muss, der Bandarbeiter mit Mietwohnung in Vinnhorst ihm das Bürgergeld finanziert. Aber weil mit dem Verlust von Wohnung und Zuhause allzu häufig Abwärtsspiralen in Gang gesetzt werden, ist die Schonung der Wohnung der richtige Ansatz.

Jugend

Wer jung ist braucht sein Geld. Für seinen eigenen, unbelasteten Start ins Leben. Bislang bei Hartz IV wurde der Azubi-Lohn oder ein Minijob bei Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaften angerechnet, wie jedes andere Erwerbseinkommen auch. Dadurch entstand ein massiver Unterschied zwischen Jugendlichen im Hartz-IV-Bezug und denen aus „gutem Haus“. Jugendliche aus armen Verhältnissen blieben arm. Ihnen bleiben nur 100 Euro ihres Lohns als Grundfreibetrag. Mit dem Bürgergeld sind künftig monatlich 520 Euro anrechnungsfrei. Erst darüber wird ein Großteil des Lohns mit der Bürgergeldzahlung verrechnet. Ein sozialpolitischer Fortschritt, der zumindest im Ansatz der richtigen Richtung folgt: Jeder und jede hat gefälligst das Recht auf gute Startchancen, mit ordentlicher Ausbildung, unabhängig vom Status der Eltern.  

Zuverdienst  

„Mit dem Bürgergeld soll die grundlegende Erfahrung verstärkt werden, dass Arbeit auch im Geldbeutel einen Unterschied macht“, so Heil markig. Doch was beschlossen wurde, ist wenig: Wer zwischen 520 und 1.000 Euro verdient, soll künftig mehr von seinem Einkommen behalten können. Die Freibeträge in diesem Bereich werden von 20 auf 30 Prozent angehoben. Erlöse zwischen 100 und 520 Euro müssen zu 80 Prozent abgegeben werden. Die Koalition meint, dass mit der minimalen Veränderung in der Verdienstanrechnung der Anreiz zu arbeiten erhöht würde. Welch Fehleinschätzung. Es gibt Langzeitarbeitslose, die arbeiten wollen, immer wieder, es aber aus ganz vielfältigen Gründen nicht können. Zumindest nicht regelmäßig. Sie haben gute Tage, sie haben schlechte Tage. Viele StraßenzeitungsverkäuferInnen leben so. Für den regulären Arbeitsmarkt sind sie zu krank, zu kaputt, zu zart. Deshalb bieten sie, an ihren guten Tagen oder Stunden, Straßenzeitungen an. weil sie Teil sein wollen, nützlich sein wollen, dabei sein wollen, kommunizieren und verdienen wollen. Dass die Koalition sich nicht getraut hat, die so genannte Zuverdienstgrenze analog zu den Jugendlichen auch für gehandicapte Langzeitarbeitslose massiv zu erhöhen, führt nun dazu, dass diese Menschen weiterhin, nur ein paar Tage teilhaben. Danach werden sie wieder unsichtbar. In ihren kleinen Zimmern, Wohnungen, Unterkünften. Motto: „Eure Leistungsbereitschaft ist uns nichts wert.“ Das ist sehr schade.

Volker Macke      

Nächtliche Zuflucht

Fotos: Selim Korycki

Schutz für obdachlose Menschen vor der kalten Nacht bieten längst nicht mehr nur Notschlafstellen. Wer sich dort nicht sicher fühlt, kommt in die beiden neuen Nachtcafés der OHH oder des DW – und die bieten weit mehr, als nur eine Tasse Tee. ein Besuch in der Stille der Nacht. 

„Die Leute bekommen hier Tee, Kaffee, Brühe und menschliche Wärme“, erklärt Diakoniepastor Friedhelm Feldkamp und zeigt in den grüngestrichenen Raum. Die Wände sind mit Landschaftsmalerei verziert, die Deckenleuchten erhellen grell die quadratischen Tische, die an den Wänden aufgereiht sind und an denen vereinzelt eine Handvoll Menschen sitzt. Weihnachtliche Musik empfängt die Besuchenden. Umso voller es wird, umso stickiger ist auch die Luft. Es riecht nach einer Mischung aus Mensch und Brühe. Von der Theke aus führt ein kleiner Gang aus dem quadratischen Raum, an dessen Ende ein Mann mit hochgeklappter Kapuze, angelehnt an eine blaugestrichene Wand, schläft. Eine Ausnahme, denn zum Schlafen ist das Café Nachtlicht im Mecki 2 nicht gedacht.

Das Nachtcafé hat sich im letzten Winter aus einer Notlage herausgebildet, erklärt Feldkamp. Die Kälte und die immer weiterwachsende Anzahl an obdachlosen Menschen in Hannover zwangen das Diakonische Werk zu handeln. Hier können die Leute seit November von 20 bis 6 Uhr vorbeikommen und sich in den kalten Nächten aufwärmen. Auch Schlafsäcke und wärmende Kleidung werden den BesucherInnen mitgegeben, die meist nach zwei bis drei Stunden wieder weiterziehen. Fünfzehn Leute finden gleichzeitig Platz in dem Raum am Raschplatz.

Von Montag bis Mittwoch sind zwischen 19 und 21 Uhr je zwei ehrenamtliche HelferInnen vor Ort, bevor der Sicherheitsdienst die Nacht übernimmt. Einer von insgesamt zwölf Ehrenamtlichen ist Norbert Hauptstein. Er ist gerade dabei, Lichterketten an den Fenstern des Cafés anzubringen. „Ich denke oft, wäre es anders gelaufen, hätte auch ich hier sein können“, sagt der Rentner in dem gestreiften Shirt und der halb-zugezogenen roten Daunenjacke. Seine Augen kneift er über der FFP2-Maske zusammen. Ein-, zweimal die Woche hilft er hier aus. Während sich seine Töchter die neuste, tollste Jeans wünschen, sind die Menschen im Café dankbar für ein Paar alte Handschuhe. Die Tätigkeit zeige ihm, dass man dankbar sein sollte für das, was man hat.

Heroin, Kokain, Alkohol

Die Tür geht auf und ein eisiger Luftzug durchfegt den Raum. Der Mann, der hereinkommt, trägt einen großen Rucksack, eine khakifarbene Winterjacke und eine schwarze Cap. Sein rechter Ringfinger ist mit einem Verband umwickelt. Er steuert zielsicher auf die Theke zu, vorbei an denen, die kurz mit dem Kopf an der Wand eindösen und den drei sich unterhaltenden, älteren Männern, von denen einer immer wieder von einem heftigen Hustenanfall geschüttelt wird. An der Theke angekommen fragt der Mann auf Englisch nach einer Tasse Brühe. Sein Name ist Arthur, er ist zum zweiten Mal im Café Nachtlicht zu Besuch. Der 37-Jährige kommt aus Polen, hat zwischenzeitlich in London und nun auch in Hannover gelebt. In allen Ländern war er im Gefängnis, wegen Diebstahl und der Sucht, erzählt er. Heroin, Kokain, Alkohol. „Ich muss damit aufhören“, sagte er sich irgendwann. Er spricht schnell und in seinen Augen glitzert die Entschlossenheit. Mit beiden Händen umklammert er die blaue Tasse und nimmt einen tiefen Schluck. Auf der Straße wurde ihm sein letztes Hab und Gut geklaut. Nun ist der Antrag für einen neuen Ausweis fast durch und Arthur hofft darauf, bis Weihnachten nach Mannheim zu einem Freund fahren zu können, um bei ihm zu arbeiten. „Gib niemals auf. Versuchs, versuchs und versuchs weiter“, ist sein Motto.

Diesen Kampfgeist können viele in dieser Nacht nicht aufbringen. Zwei Tische weiter sitzt der 26-jährige André. Unter der schwarzen Mütze schauen müde Augen hervor. Zusammengesunken sitzt er auf seinem Stuhl. André ist seit knapp vier Monaten obdachlos, auch ihm wurden die Drogen zum Verhängnis. Seit er von seinem Vermieter gekündigt wurde, schläft er am Kröpke. Der Frührentner kratzt sich das stoppelige Kinn und lächelt schüchtern. „Optimal ist das nicht, mir wurde auch schon mal der Schlafsack geklaut“, gibt er zu. Seitdem es nachts so kalt wird kommt er ins Nachtcafé. Einmal hatte er versucht in eine der Notschlafstellen zu kommen, die sei allerdings schon voll gewesen.

Inzwischen sind die Ehrenamtlichen gegangen und das Café liegt in den Händen der beiden Sicherheitskräfte Sevgi Demiroh und Mohamad Youssef. Vier bis fünf Tage die Woche, von 20 bis 6 Uhr arbeiten die Beiden hier. Sie haben schon zuvor bei dem Kontaktladen Mecki 1 die Stellung gehalten, die Menschen kennen und akzeptieren sie. Dieses Jahr sei es im Nachtcafé deutlich ruhiger als im letzten Winter, erzählen sie. Vergangenes Jahr musste regelmäßig die Polizei kommen, um Streitereien zu schlichten – zu viele Menschen, zu viel Konfliktpotenzial. Wenn es jetzt mal eskaliert, dann sind fast immer Drogen der Hintergrund, erklärt Demiroh. Hier im Café darf nicht konsumiert werden. Dass es nun ein weiteres Nachtcafé in der Stadt gibt, habe die Lage deutlich entspannt, ergänzt ihr Kollege.

Obdachlosigkeit in der Podbi

Es ist ruhig in dieser Nacht in der Podbielskistraße. Warme Luft schlägt den Besuchenden beim Eintreten des Café Mensch entgegen. Die Lichter sind gedimmt, die Rollläden unten. Lediglich die Theke wird von blauem Licht erleuchtet, gerade so viel, dass die ehrenamtlichen HelferInnen ihrer Arbeit nachgehen können. Der Raum bietet deutlich mehr Platz, als das Café am Raschplatz. Ein paar wenige Menschen sitzen still an den Tischen, die im Raum verteilt stehen. Der Großteil der Anwesenden liegt auf Isomatten und in Schlafsäcken eingemummelt auf dem Boden, teils auch unter den Tischen. Die einzigen Geräusche, die zu hören sind, ist vereinzeltes Schnarchen und Lewis Capaldi, der aus den Lautsprechern leise „someone you loved“ singt. Am Ende des Raumes sitzen an einem großen Tisch der Chef der Obdachlosenhilfe Hannover und Gründer des Nachtcafés Mario Cordes mit seinen ehrenamtlichen HelferInnen. Sie unterhalten sich leise, um niemanden zu wecken. „Hier kommen die Leute runter“, sagt der Betreiber in dem bedruckten, dunkelroten Hoodie, während er seine Brille zurechtrückt. Das sei allerdings nicht von Anfang an so gewesen, erklärt er. Es habe seine Zeit gebraucht, bis die Menschen verstanden haben, dass sie hier in Sicherheit sind.

Seit dem 14. November öffnet das Café jede Nacht von 19 bis 7 Uhr, dienstags und donnerstags ab 17 Uhr. Offiziell ist es nicht vorgesehen, im Nachtcafé zu schlafen. Er werde aber niemanden in die Kälte schicken, unterstreicht Cordes. Platz gibt es genug: Um die 80 Sitz- und etwa 30 Schlafplätze.

So große Räumlichkeiten zu finden war nicht einfach. „Obdachlosigkeit ist eben nicht beliebt in der Nachbarschaft“, erzählt Cordes nüchtern. Bis sie schließlich den Glückstreffer mit dem Objekt in der List gemacht hatten. „Die Podbigemeinde ist sehr aufgeschlossen“, berichtet der OHH-Chef. Er habe auch das Gefühl, die Menschen würden in dieser Krisenzeit, zwischen Inflation, Krieg und Corona, solidarischer werden. Vor ein paar Wochen kam ein junger Mann ins Nachtcafé und bot einem 74-jährigen obdachlosen Mann ein leerstehendes Zimmer bei sich zu Hause an. „Ich hab da was für dich, hat er gesagt“, so erzählt es Cordes.

Wärme gegen Respekt

Klare Stoßzeiten gibt es kaum, mal kommen die Leute erst ab 5 Uhr nach dem Flaschensammeln oder schon zu Beginn, erklärt Maik Behre. Er ist einer von zwei Sicherheitskräften des Nachtcafés und für die heutige Nacht zuständig. Meistens verlaufe es ziemlich ruhig, sagt er. Dann hat er auch Zeit, sich die Sorgen der Menschen anzuhören. „Mädchen für alles“, nennt er sich schmunzelnd selbst. Behre ist, wie die meisten Mitarbeitenden, Mario Cordes irgendwie zugelaufen. „Mario sammelt eben Streuner“, scherzt Gerd Diesterer, ein ehrenamtlicher Helfer. Eine Nacht ist für die Ehrenamtlichen in zwei Schichten aufgeteilt, die je von zwei Leuten belegt werden. Die erste Schicht beginnt um 19 Uhr und endet um 0 Uhr. Die zweite dauert von 0 bis 7 Uhr. Für die insgesamt 130 HelferInnen gibt es eine Ehrenamtspauschale.

Sabrina Oppermann ist eine von ihnen. Aktuell kümmert sie sich neben ihrem Vollzeitjob bei der Obdachlosenhilfe Hannover um die Schichtpläne des Cafés. Sie war schon letztes Jahr dabei, als Cordes und sein Team im Nachtcafé Nachtlicht gearbeitet haben. „Ich finde es erschreckend, zu sehen, wo überall Schutz und Wärme fehlt“, erzählt sie. Manchmal kommen Leute nachts, im Winter, barfuß oder mit T-Shirt bekleidet ins Café. „Das lässt einen erst einmal schlucken“, sagt sie. Für solche Fälle gibt es im Untergeschoss des Nachtcafés eine Kleiderkammer, auch eine Waschmaschine befindet sich dort. Zudem wird im Café Mensch täglich eine warme Mahlzeit angeboten- alles kostenlos. „Geld von Leuten zu verlangen, die ohnehin keinen Cent haben, hat meiner Meinung nach nichts mit sozial zu tun- da fehlt die Menschenwürde“, meint Cordes.

Als Gegenzug verlangen die Mitarbeitenden nur Respekt. „In den letzten drei Wochen, seit wir geöffnet haben, habe ich so oft das Wort ,danke´ gehört, die noch nie zuvor“, erzählt die Ehrenamtliche berührt.

„Zu laut, zu viel Alkohol, zu viel Stress“

Dankbarkeit gibt es nicht nur für Kleidung und Essen, sondern vor allem auch für den sicheren Schlafplatz. Dabei gibt es insgesamt sechs Notschlafstellen in Hannover, die Platz für obdachlose Menschen bieten, von diesen allerdings oft gemieden werden. „Gewalt ist dort ein großes Thema“, erklärt Cordes. „Und auch Diebstahl und Übergriffe, vor allem gegenüber Frauen“, wirft Oppermann ein.

Auch Micha, der inzwischen Stammgast des Cafés Mensch ist, nutzt die Notschlafstellen nicht. Die zwei größten, am alten Flughafen und in der Wörthstraße, hatte er schon ausprobiert. „Zu laut, zu viel Alkohol, zu viel Stress“, ist sein Fazit. Dann schläft er lieber mit einem dicken Schlafsack auf der Straße. Seit Eröffnung des Café Mensch schläft der 53-Jährige allerdings jede Nacht hier. Er kennt Mario schon aus dem Café Nachtlicht. „Das ist aber kein Vergleich, da sind nur Stressmacher unterwegs“, erzählt der Mann mit dem leicht ergrauenden, kargen Haar. Hier fühlt er sich wohl, hat sogar zugenommen. „Ich werde noch zum Pummel!“, beschwert er sich lachend.

Der ehemalige Schlosser scherzt viel, dahinter steckt allerdings auch Trauer- und Wut.

Trauer, denn seit fast eineinhalb Jahren wohnt Micha auf der Straße. Gesundheitsprobleme, Jobverlust, Depressionen und eine gescheiterte Ehe führten ihn dorthin. Er blinzelt die Tränen in seinen Augen weg. Und Wut, weil er sich von der Politik nicht wahrgenommen fühlt. Micha kann nicht nachvollziehen, wo plötzlich der Platz für so viele Geflüchtete herkommt, wenn er doch für obdachlose Menschen seit Jahren fehlt. „Sind wir denn weniger wert?“, fragt er entrüstet. Wenn ihm alles zu viel wird, geht er Flaschensammeln, das wurde eine Art Therapie für ihn, erklärt er.

Heute macht er sich nicht mehr auf den Weg, er ist müde und legt sich zu den anderen auf den Boden, um zu schlafen. Ein letzter Blick ins Café zeigt unbesetzte Tische und schnarchende Menschen.

Celine Hog